W 110

Kleine Flosse – langes Leben.

Die ersten 50 Jahre.

Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle! Vorname: 190Dc („c“ weil es vorher schon andere mit Vornamen 190D gegeben hat) – Familienname: Heckflosse, abgekürzt W110. Ich bin Mitglied einer großen Familie, die von 1959 bis 1968 in vielen verschiedenen Baureihen vom Band liefen. Wir waren insgesamt etwas mehr als 1.000.000 Familienmitglieder, darunter etwa 225.600 von meiner Bauart mit dem 4-Zylinder-Dieselmotor. Doch im Laufe der Jahre sind die allermeisten von uns den Unfalltod oder an der Rostkrankheit gestorben. Von meinen direkten Geschwistern waren Anfang 2014 in Deutschland laut Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg nur noch 498 angemeldet. (Ich bin da nicht mitgezählt, weil ich mich am Zähltag im Dornröschenschlaf befand.) Unsere gesamte Familie umfasst dort nur noch rund 2.950 Fahrzeuge. Wir sind also, wie viele andere auch, eine vom Aussterben bedrohte Art und es ist an der Zeit, unseren Bestand zu schützen.

Die Familienähnlichkeit ist auffällig und auch so gewollt: Unsere Einheitskarosserie zieht sich über die ganze Familie hinweg und bietet allen Käufern denselben Fahrgastraum und Kofferraum. Unsere hinteren Kotflügel sind Erkennungszeichen, besonders die kantigen oberen Abschlüsse sind als Peilstege ausgebildet und werden von den Menschen liebevoll Heckflossen genannt. Dieser Name war nicht so von unseren Schöpfern geplant, weil sie wohl nicht wollten, dass man sie mit den überdimensionierten Auswüchsen an amerikanischen Fahrzeugen in einen Topf wirft.
Ich selbst gehöre zu den sogenannten „kleinen Flossen“, die von April 1961 bis August 1968 gebaut wurden. Weil mein Motor weniger Platz braucht als die 6-zylindrigen Cousins ist meine Motorhaube 15 cm kürzer. Meine Gesamtlänge beträgt doch immerhin noch stattliche 4730 mm.
Ich gehöre den mittleren Jahrgängen an und wurde am 8 April 1964 an seinen Besitzer in Nord-Rhein-Westfalen übergeben. Er hat mich von Anfang an üppig ausstatten lassen, mit schöner Zweifarblackierung, Zusatzlebellampen und reichlich Schmuck, wie Stosstangenecken und Chromleisten, die sich von den Heckflossen bis über die Türgriffe der Hintertüren hinziehen. Innen sollten Radio und Kassettenspieler ihm das Fahren angenehm gestalten. Er muss mich sehr gemocht haben und ist wohl ein vorausschauender Mensch gewesen. Auf jeden Fall hat er mir vorsorgende Pflege angedeihen lassen indem er für Hohlraumkonservierung und Unterbodenschutz gesorgt hat, bevor ich in ein womöglich abenteuerliches Leben losgeschickt wurde. Das aber war nicht sofort der Fall, denn die ersten 5 Jahre meines Lebens durfte ich als stummes Familienmitglied verharren und die Vorfreude auf ein aktives Automobilleben genießen.
Als es dann endlich soweit war, dass ich mit meinen Besitzer und seinen Lieben stolz umherfahren durfte, wurde ich immer sorgsam gehütet und gepflegt. Regelmäßig gönnte er mir längere Auszeiten, in denen ich mich ausruhen durfte, dann aber wieder angemeldet wurde um auf Tour zu gehen. Wir haben oft Ferien im Süden Deutschlands gemacht und ich bewahre bis heute mehrere Plaketten auf, die wir als treuen Gast für 10, 15 und 20-fachen Besuch desselben Ortes im Allgäu zum Geschenk bekamen.
Allzu viel wurde ich allerdings nicht in der Welt umhergehetzt, und im Jahr 1983, nach 14 aktiven Jahren, durfte ich in Frührente gehen und mich zur Ruhe setzen. Ich hatte knapp 69.000 km auf dem Tacho. So verharrte ich viele Jahre voller Muße und Ruhe und freute mich, dass ich immer in derselben Familie bleiben durfte, bis dass der Tag kam, den ich immer mehr fürchtete. Mein Erstbesitzer war nämlich in der Zwischenzeit gestorben und seine Erben beschlossen, dass ich eine neue Bleibe bekommen sollte.
An dem Tag wo ich meine liebe Familie verließ, war ich so aufgeregt, dass ich mir, nicht ahnend dass meine Bremsen aus der Übung gekommen waren, beim schwungvollen Vor-und Rückwärtsmanövrieren an den Stoßstangen und an der Motorhaube eine kleine Beule geholt habe. Das war Schade und hätte nicht sein müssen, aber als einzige Blessuren in meinem Leben ist das nicht das Schlimmste, was mir widerfahren konnte.
So kam ich dann im Frühling 2014 in eine Fachwerkstatt unweit von Trier, wo meine Blessuren behoben wurden. Die ganze Zeit des Stillstehens war mir natürlich nicht gut bekommen, sodass ich jede Menge Standschäden erlitten hatte, die gleichzeitig beseitigt wurden.
In dieser Zeit begegnete mir ein mit dem Mercedes-Virus infizierter Oldiefreund aus Luxemburg, dessen Blicke sofort auf mich fielen als er mit einem Fahrzeug zur Werkstatt kam. Nach kurzem Gespräch stand fest, dass meine neue Heimat auf der anderen Seite der Mosel sein sollte.
Im August 2014, 50 Jahre nach meiner Erstauslieferung, trat ich die Reise nach Luxemburg an und erfreue mich allerbester Gesundheit. Bis auf eine Stoßstangenhälfte und die üblichen Verschleißteile, ist noch alles genauso original wie am ersten Tag. Mit Ausnahme der Nachlackierung der Motorhaube, erfreue ich mich meines ersten Lacks und einer Innenausstattung die keinerlei Gebrauchsspuren aufweist. Sogar die Aschenbecher warten noch auf ihre erste Zigarette, und werden auch beim neuen Besitzer keine Bekanntschaft damit machen.
Dass mein Motor mit einer so kleinen Laufleistung völlig gesund ist, macht mir besonders viel Freude, und ich gehe davon aus, dass ich meinen neuen Besitzer noch über viele Kilometer mit meiner nagelnden Dieselhintergrundmusik begleiten werde.
Aber das wird Inhalt der zweiten 50 Jahre meines Lebens sein.